Die Faszination für Carlo Lorenzinis berühmteste Schöpfung ist bis heute ungebrochen. Der italienische Schriftsteller, besser bekannt unter seinem Künstlernamen Carlo Collodi, bekam davon nur wenig mit. Denn der große Erfolg seiner Abenteuer des Pinocchiostellte sich erst nach seinem Tod ein. Seither hat die Geschichte um eine zum Leben erwachte Holzpuppe, die ein echter Junge werden möchte, mannigfache Adaptionen erfahren. Die berühmteste bleibt Walt Disneys Zeichentrickversion aus dem Jahr 1940. Beinahe 80 Jahre später hat sich Matteo Garrone an den Stoff gewagt. Seine Realverfilmung, die im Dezember 2019 in die italienischen Kinos kam und im Februar 2020 bei der Berlinale zu sehen war, erscheint nun fürs Heimkino.
So brav wie im Haus mit der (Mickey) Maus geht es bei Garrone nicht zu. Zwar setzt sein Film in allen Gewerken auf Opulenz und sieht schlicht fantastisch aus. Garrone bewahrt sich dabei aber seinen Hang zur Düsternis. Schon wenn der von Roberto Benigni gespielte Holzschnitzer Geppetto durch kalte Gassen streift, sich am Feuer einer Osteria kurz die Glieder wärmt und, weil er zu stolz ist, Almosen anzunehmen, schelmisch unnötige Arbeiten als Gegenleistung für einen Teller Suppe anbietet, zeichnet der Film ein realistisches Bild. Collodis Italien ist keine heile Märchenwelt. Arbeit und Essen sind knapp. Überall lauern Strauchdiebe und Betrüger. Für die Holzpuppe, die ihm bald zu einem Sohn wird, gibt Geppetto im übertragenen wie im wörtlichen Sinn sein letztes Hemd.
Garrone, der gemeinsam mit Massimo Ceccherini das Drehbuch schrieb, bleibt nah an der Vorlage und weicht doch bereits in den ersten Minuten entscheidend von ihr ab. Die große Schwäche von Collodis Geschichte ist das Episodische. Ab 1881 zunächst im Giornale per i bambini, einer Wochenzeitung für Kinder, in Fortsetzung veröffentlicht, umreißt der Schriftsteller seine Figuren und Orte nur grob. Garrones Verfilmung räumt Geppetto und dem sozialen Gefüge um ihn herum deutlich mehr Raum ein und erschafft dadurch eine glaubwürdige Welt. Dass er den Holzschnitzer, den ursprünglich Toni Servillo spielen sollte, letztlich mit Roberto Benigni besetzt hat, ist ein weiterer geglückter Coup. Der Oscarpreisträger füllt diese Rolle nicht nur wundervoll aus, sondern leistet auch indirekt einen Teil Wiedergutmachung für seine eigene, missglückte Pinocchio-Verfilmung aus dem Jahr 2002, in der er nicht den alten Holzschnitzer, sondern die junge Puppe (!) spielte.
Leider traut sich Garrone erst gegen Ende, als Pinocchio in einem Küstenort endlich eine Schule besuchen muss und sich mit dem Lausbub Kerzendocht anfreundet, weitere Episoden auszubauen. Besonders zu Beginn hätte dieses Weiterspinnen der Vorlage dem Film gutgetan. So gelungen das Drehbuch Geppetto auch einführt, kaum hat er den von Federico Ielapi mit kindlicher Neugier gespielten Jungen aus einem wundersamen Stück Holz geschnitzt, springt dieser wie in der Vorlage davon und von kurzer zu noch kürzerer Episode. Angesichts einer Laufzeit von knapp zwei Stunden mag man es kaum sagen, aber gerade in den ersten Minuten hätten zehn weitere nicht geschadet. Denn in diesen stellt sich weder eine innige Beziehung zwischen Vater und Sohn ein noch das Gefühl, einer groß angelegten Erzählung zuzusehen. Vor allem im ersten Akt fühlt sich Garrones Version wie eine Pflichtaufgabe an, alle aus der Vorlage bekannten Stationen schnellstmöglich abzuhaken.
Zum Glück gelingt dem 1968 geborenen Filmemacher im zweiten und dritten Akt doch noch die Kür. Seine Adaption wird umso besser, je länger sie dauert. Die Begeisterung für die ausladenden Kostüme und das ausgefeilte Make-up – allein Ielapis Maske nahm täglich drei Stunden in Anspruch – nehmen von Minute zu Minute zu. Die darin präsentierten Figuren sind mitunter ziemlich düstere Gesellen und sicherlich nicht für jedes Kind geeignet. Faszinierend sind sie allemal. Was indes die Faszination der Vorlage auf Publikum und Filmschaffende ausmacht, dürfte sich nicht jedem erschließen.
Im Grunde hat Collodi ein didaktisches Erziehungsbuch geschrieben, das Kinder dazu anhält, ihren Eltern zu gehorchen und brav die Schule zu besuchen. Die fantastischen Elemente, die der Autor in den kargen Alltag seiner Geschichte einfließen lässt – von der Fee mit den dunkelblauen Haaren über die betrügerischen Fuchs und Katze bis hin zum großen, alles verschlingenden Hai, in dessen Bauch Geppetto und Pinocchio landen – zeugen von einer größeren Fantasie, als er sie seinem kindlichen Protagonisten zugesteht. Nun haben zwar einige Interpreten aus Collodis Geschichte Ironie herausgelesen, die setzt aber meist nur in der Kritik der Staatsorgane und eben nicht in der Kindererziehung an.
Auch Garrone interessieren die komischen Elemente der Vorlage nur am Rande. Stattdessen treibt ihn die Mischung aus hartem Alltag und fantastischer Überhöhung um. Als Regisseur wechselt Garrone ja selbst gern zwischen diesen Welten. Mal dreht er harsche Verbrechergeschichten wie Gomorrha (2008) oder zuletzt Dogman (2018), mal Märchen wie Das Märchen der Märchen (2015) oder nun Pinocchio. Dabei schwingt in der einen Welt stets das Interesse an der anderen mit.
Die Anziehungskraft dieses Stoffs nimmt übrigens kein Ende. Nach Roberto Benigni, der seine Adaption direkt nach seinem Oscargewinn für Das Leben ist schön (1997) in Angriff nahm, macht sich ein weiterer großer Name an Collodis Vorlage. Nach dem Preisregen für Shape of Water (2017) widmet sich nun auch Guillermo del Toro der kleinen Holzpuppe. Geplant ist ein düsterer Stop-Motion-Film. Es bleibt abzuwarten, welch dunkle Twists der Mexikaner mit der Vorliebe für Monster in petto haben wird. Bis dahin bietet Matteo Garrones Variante ein wirksames Gegengift gegen zu viel Disney-Süße und bleibt die bis dato versierteste Realverfilmung.